Montepulciano Journal– The poetics of Making
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The Montepulciano Journal is a publication within the doctoral program. The articles in this journal are the result of the workshop «The Poetics of Making» held at Palazzo Ricci, the European Academy of Music and Performing Arts in Montepulciano, from July 3 to 15, 2022.
Contributions by Georg Trogemann, Steffen Mitschelen, Zahra Mohammadganjee, Somayyeh Shahhoseiny, Natalie Weinmann, Tobias Bieseke, Christian Heck, Christian Rust
URN: | urn:nbn:de:hbz:kn185-opus4-2382 |
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ISBN: | 978-3-942154-63-5 |
Series (Serial Number): | Montepulciano Journal (0) |
Publisher: | Verlag der Kunsthochschule für Medien |
Place of publication: | Köln |
Editor: | Georg Trogemann |
Document Type: | Part of Periodical |
Language: | Multiple languages |
Year of Completion: | 2022 |
Release Date: | 2022/12/16 |
Tag: | Aesthetic praxis; Critical thinking; Design; Experience; Experimentation; Meta-tools; Perception; Poetic making |
Page Number: | 116 |
Poetik des Machens, 4
„Die Poetik des Machens“ war der Titel des Doktorandenworkshops, der vom 3.-15. Juli 2022 im Palazzo Ricci, der Europäischen Akademie für Musik und darstellende Kunst in Montepulciano stattfand. Die Beiträge in diesem Journal dokumentieren vor allem die Ergebnisse der zweiten Workshop-Woche. Während in der ersten Woche der aktuelle Stand der einzelnen Arbeiten gemeinsam diskutiert wurde, stand in der zweiten Woche die Entwicklung kleiner Experimente im Zentrum. Dafür standen nur wenige Tage und außer den bescheidenen mitgebrachten Mitteln auch keinerlei Technik zur Verfügung. Trotzdem zeigen die Beiträge, worum es im Kern geht, nämlich um ästhetisches Handeln, das versucht, die Dichotomisierung von Theorie und Praxis aufzulösen und das eigene Tun zu reflektieren. Ästhetische Praxis wird hier als Mittel betrachtet, um sich von der Zweckrationalität zu befreien, ein tieferes Verständnis unseres poietischen Handelns zu erreichen und selbst handlungsfähig zu werden. Ohne die Reflexion der Handlungs-Settings und insbesondere ohne Reflexivität, also jene Wendung, die das eigene Denken zum Gegenstand der Kritik macht, bliebe jede ästhetische Praxis leer. Der Workshop nahm die Mensch-Technik-Verhältnisse aus poietischer Perspektive in den Fokus. Dieser Ansatz fordert neue Narrative, mit denen wir die gleichermaßen natürliche wie technische Bedingtheit unseres Lebens in den Griff bekommen und ästhetisch neu ausformulieren.
Surface thinking – The search for meaning in pictorial spaces, 8
Designers today often use abstract representations not only to present their work but also to produce it. The means used in a representation process co-determine the results. They influence both how something can be represented as well as what will be represented. Therefore, a conscious examination of the design tools is essential if designers don›t want to fall prey to tool bias. This fact raises some questions: What is happening during acts of representation? How are design tools guiding us during such processes? And what other factors must be considered here? In this text, I report on a workshop I conducted with my doctoral research group to tackle this topic. It was conceived and held during our trip to Montepulciano.
Palazzo Ricci, a Castle in the Air; The Prevalence of the Height of Decision over the Width of Experience, 21
When a mountaineer loses their way on a rock face and can no longer continue without assistance, they must pick one of two options—either to return to the starting point or to leap into the dark and climb without enough knowledge toward the peak. Choosing the upward path requires courage, extravagance, and risk-taking because it is long and slippery, while the return journey takes one to the safety of firm and familiar ground. Under the title “The firmness of the ground and the forms of its loss,” Otto Bollnow elaborated on this difficult dilemma. From his point of view, the heights and abysses on the upward path cause dizziness because being far from firm ground compromises our ability to stand. The mountaineer’s nightmare is that they may lose their balance and fall into a bottomless pit. They are trapped into a nameless fear, the fear of not feeling the ground under their feet—if they do not keep their balance, they simply fall. However, by overcoming the “weight of the earth” and the “fear of the earthly,” they reach a higher viewpoint. “Extravagance depends for him (human existence) on a certain disparity between climbing up and stepping into the distance.”
There were eight of us…, 33
There were eight of us on the way back and through the endless turns of the green mountains of Switzerland in a car the size of us and our luggage. No less and no more. On the way back in the green mountains enclosed between two skies. We drove in silence as if we were carrying the weight of the memories of the past 14 days with us. Something had changed in our silences, our words, and our looks. There was no longer any trace of the intense contraction of muscles that appeared in each of us at the beginning of this journey. And I thought that, rightly at the end of every journey, there is an opening and a sadness.
Kannste Knicken!, 47
Die Faltung ist ein Prozess, mit dem wir häufig unbewusst in Berührung kommen. Gleichzeitig verbirgt sie eine Komplexität, die wir in einer Routine und tagtäglichem Umgang nicht mehr wahrnehmen. Auf den folgenden Seiten möchte ich deshalb anhand eines Faltexperiments die Grenzen unserer Imaginationsfähigkeit verdeutlichen und auf die Potenziale hinweisen, die durch die Verknüpfung von Denken und Machen entstehen. Die Idee des Experiments entstand in Montepulciano im Juli 2022. Die erste Erprobung mit meinen Mitpromovierenden zeigt mir, dass weitaus mehr hinter einer einfachen Faltübung steckt, als ich selbst erwartet hätte. (…)
Draw a straight line and follow it! – Experimentelle Erfahrungen eines 360° Videowalks, 59
er psychoanalytische Filmtheoretiker Jean-Louis Baudry vertrat die Auffassung, dass die Realitätsillusion des Kinos nur deshalb funktionieren kann, weil die Besucher*innen in den beinahe bewegungslosen Zustand eines Neugeborenen, wenn nicht sogar eines Embryos gebracht werden, welcher sie zu Subjekten des Unbewussten (Passivität durch Machtlosigkeit) werden lässt. Dieser Zustand lässt sich, nach Baudrys Aussage, mit der Beschreibung von Platons Höhlenmythos vergleichen, in welchem die Auflösung der Passivität durch Aktivität die Befreiung aus der Unterdrückung von einer Scheinrealität bedeutet. Die Auflösung dieser Scheinrealität erweist sich jedoch als zu komplex, da Baudry das Kino nicht ausschließlich als technischen Apparat begreift, sondern als „Dispositiv“. Er meint damit, dass der technische Apparat zusammen mit dem rezipierenden Subjekt gedacht werden muss. Das bedeutet, dass z.B. die Enttäuschung des Gefangenen aus Platons Höhle nicht daraus resultiert, dass ihm ein technischer Apparat unwirkliche Bilder gezeigt hat, sondern dadurch, dass das Mehr-als-Reale – der Wunsch des Wunsches – welchen die Rezipient*innen in den illusorischen Zwischenraum hineinprojizieren, nicht in Erfüllung gehen wird.
“I am not convinced.” – Über kritisches Denken und die Lust am Streiten, 77
Mein Geburtstag fiel auf das Ende unserer ersten Workshop-Woche in Montepulciano, so ungeplant wie ungewollt. An meinem Geburtstag liegt mir nichts, deshalb hatte ich am Morgen noch gehofft, er würde unbemerkt bleiben. Aber er blieb es nicht. So gab es mit den Doktorandinnen und Doktoranden – wie schon im Vorjahr – eine kurze, wohlwollend-herzliche Zeremonie mit Kuchen und kleinen Geschenken. Eine kleine Portraitserie von den Teilnehmern, die mit der schwierigen Lichtsituation im Seminarraum spielte, die wir die Tage zuvor mehrfach humorvoll kritisiert hatten, ein Glas Marmelade, eine große Flasche Leffe Rossa und ein T-Shirt mit der Aufschrift „I´m not convinced.“, dessen kurzfristige Beschaffung einigen Organisationsaufwand bedeutet haben muss. Da stand nun jener Satz, in fettem Schwarz auf weißem T-Shirt, den ich die letzten Tage offensichtlich auffallend oft gesagt hatte: „I´m not convinced.“ In den vier Tagen zuvor waren wir zusammen den Stand der einzelnen Arbeiten durchgegangen, hatten nach Impulsreferaten – mal auf Englisch, mal auf Deutsch – ausführlich über Verortung, Methodik, Referenzen jedes Vorhabens diskutiert und nächste Schritte besprochen. Nach den Präsentationen gab es erwartungsgemäß Nachfragen, aber auch Ermutigung und echte inhaltliche Weiterentwicklung. Die Diskussionen verliefen dabei jedoch nur punktuell lebendig und kontrovers, meist eher verhalten und zögerlich und ab und an mein bohrendes Insistieren: „I am (still) not convinced“, wobei ich in der Folge durchaus versucht habe, jeweils zu begründen, warum ich nicht überzeugt war.
Soviel zum Anlass für den folgenden Text. Natürlich war das T-Shirt als Geburtstagsgeschenk eine überaus nette und humorvolle Geste, aber es hat mich beschäftigt, auch wenn das sicher nicht beabsichtigt war. Nicht die Tatsache, dass ich ein T-Shirt mit diesem Aufdruck bekommen habe, das hat mich gefreut, sondern die Frage, was ich mit diesem Insistieren und Nachbohren eigentlich bezwecke? Warum habe ich trotz der konzentrierten Arbeitsatmosphäre die Lust auf kritischere und durch aus auch härtere inhaltliche Auseinandersetzungen vermisst? Ist das eine Generationenfrage oder hat es auch etwas mit Hierarchien zu tun, mit hier den Doktoranden und dort dem zukünftigen Gutachter? Sind die Themen und damit die Wissensgebiete zu unterschiedlich, als dass man sie gemeinsam vertieft diskutieren könnte? Oder hat sich etwa mit den Jahren die Streitkultur in den Hochschulen verändert?
Politisch ist, wenn man drüber sprechen kann – Stand: 2. August 2022, 91
Es herrscht Krieg. Wir sitzen zusammen im Palazzo Ricci in Montepulciano. Wir schreiben miteinander. Denken miteinander. Diskursiv-theoretisch, aber auch einfach so. Ein Experiment. Schreiben, Denken, Sprechen. Gemeinsam an einem Ort, zur selben Zeit sein. Zwei Wochen. Versuche eines „Sprech-Denkens“ miteinander. Ein Sprech-Denken, während „die Herrschaft des Krieges uns ihre Grammatik“ aufzwingt. Wieder einmal muss ich mich zusammenreißen und versuchen, die Mächtigen zu verstehen. Und wieder stellt sich heraus, dass es keine Worte gibt. Moralisches Handeln wird in Unvernunft verkehrt, „Gesellschaftlichkeit als Ergebnis ethischer Grundsätze existiert nicht mehr“. Gesellschaftlich rationales Handeln. Ein soziales Miteinander leben. Das ist falsch. Wird zum Verbrechen durch Krieg. Durch Handlungen des Krieges. Nicht enden wollende Handlungsstränge. Ineinander verwoben. Ein stetes Wählen (legere), zwischen (inter) objektiv-gültiger moralischer Verpflichtung und dem Vollzug meiner jeweiligen konkreten Handlung im Hier & Jetzt. Wer bin ich? Im Krieg? In Zeiten des Krieges? Wo bin ich? Ich lese Marlene Streeruwitz’ »Handbuch gegen den Krieg«.
The end of copyright, 99
This article’s title sounds like clickbait, one might say, and rightfully so. I am presenting an unfinished experiment and since I do not know the outcome yet, I could argue that the title resembles my honest expectation. Allow me just a few introductory sentences and questions to prepare the soil upon which the following experiment will grow. Generative systems of different sorts are not new in music and already existed before the advent of computers. Their use was merely limited as a tool for unpredictability and chance operations, an aid for creative processes, but they were not used for spelling out every possible combination. This essay does not present the history of generative ideas but rather the possible consequences of their implementation and the execution of an extreme form of music generation in the context of copyright laws. As soon as someone writes a piece of music, the copyright belongs to the same person. The only difficult part is to prove that one’s composition predates that of another. One possible proof is the publication of a piece. The first question to be asked is, is it a good concept or even necessary to copyright musical ideas. My answer to this question unsurprisingly, and implied by the missing question mark, is NO. I cannot think of any reason why someone should not be able to use the same musical phrase as another person without having to pay money to the person that owns the initial rights. One could still make money with a song by selling records, getting played on streaming platforms, playing concerts, being an icon, and so forth without being the sole owner of a musical idea. The owning of rights to a song is not helpful and probably does more for already established artists than for new ones. I can already hear the possible objections being raised but bear with me. If a person that had the original idea, whatever that means, does not make as much money with the same song, then it is not because of the song. The financial profit does not come from some magic melody invented by a genius musician in perfect solitude. Popularity sells a song and that, as much as it hurts me to say, has very little to do with the quality of the musical piece, at least if quality means something other than popularity. If it were not about making money, and in most cases of copyright claims, it is about absurd amounts of money, copyright as a concept would not make the slightest sense. There have been times where it was considered an honor to be musically quoted in another artist’s piece, and the honor was not bought through some sort of direct financial benefit. Since I will not be discussing this form of honorary mentions here, let us return to the initial critique of the concept of copyright in music.
Topografische Notizen, 107
Der in der Ferienwohnung ausliegende Reiseführer beschreibt die Temperaturen in der Toskana im Juli als mild – minimal 14° und maximal 30° Celsius. Man solle zwar die Badehose nicht vergessen, für die Abende sei es aber eine gute Idee, auch etwas zum Überziehen dabei zu haben. Das mag für die durchschnittlichen Temperaturen in der Vergangenheit durchaus gelten, dieses Jahr war es allerdings anders. Während des zweiwöchigen Workshops in der Toskana fiel das Thermometer auch nachts kaum unter 25 Grad. Später, an einer Apothekenanzeige in Arezzo, sah ich in der Mittagshitze die 40° Marke. Unser Aufenthalt in Montepulciano fiel in den heißesten Sommer in Europa seit Beginn der Aufzeichnungen. Schon das ganze Frühjahr hatte die Poebene mit einer extremen Dürre zu kämpfen. Im Winter fiel in den Bergen kaum Schnee, monatelang blieb der Regen aus und dann kam die anhaltende Hitzeperiode, deren Höhepunkt wir im Juli erlebten. Laut Klimaprognose war die Wetterlage in 2022 nur ein Vorgeschmack auf die zukünftige Normalität. Solche Temperaturextreme verlangsamen alle Tagesabläufe. Jeder Aufenthalt im Freien in den Mittagsstunden fordert eine triftige Begründung, nicht dringende Besorgungen werden von vornherein in den Abend verschoben. Zu meiner Überraschung wirkte die Hitze nicht einschläfernd auf die Wahrnehmung, sondern mitunter wie ein Vergrößerungsglas. Im Zeitlupengeschehen fielen nun Einzelheiten auf, die sonst vermutlich unbemerkt geblieben wären.